
Von 1858 bis 1867 schrieb meine Ur-Urgroßmutter Amalie Niemeyer ihrer jüngsten Tochter Emilie regelmäßig Briefe, die bis heute erhalten sind. Dann aber zog Emilie in die Nachbarschaft ihrer Eltern, denn sie heiratete den Redakteur Wilhelm Benrath, Compagnon ihres Vaters in der gemeinsamen Druckerei und Musikalienhandlung. Emilie und Hermann Benrath bekamen fünf Kinder, und Emilies Liebling war Nesthäkchen Carl, mein späterer Großvater. Nach dem Abitur machte er auf Geheiß des Vaters eine kaufmännische Ausbildung und übernahm bald danach als Angestellter bei der HAPAG einen Auslandsposten in Hamburgs Partnerstadt Yokohama nahe Tokio.
So weit so gut. Regelmäßig schrieb Carl seiner Mutter und berichtete launig von seinem offenbar nicht allzu mühsamen Leben in Japan. Aber nach gut zwei Jahren stoppte der Briefwechsel im Jahre 1905 für einige Monate, und erst auf ein Telegramm der Mutter hin antwortete Carl am 22. Dezember. Er stammelte ein wenig herum, dass Post immer wieder verloren gehe, dass er schon viele Briefe abgeschickt habe, fragte nach der Familie, schickte an alle Grüße und wünschte ein frohes Fest, aber schließlich brachte er doch sein eigentliches Anliegen vor:


„Liebste Mama, ich kann nicht anders, ich muß mir etwas von der Seele wegschreiben, was mich schon lange drückt. Wie das alles gekommen ist, kann ich Dir nicht sagen. Aber ich habe eine liebe kleine Japanerin lieb gewonnen + wir haben zusammen gelebt + dann ist am 28. Juni in diesem Jahre mein kleiner Junge gekommen, Karl Yoshiyasu, den ich so unendlich lieb habe. Und wenn Du ihn sehen könntest, würdest Du ihn auch nicht von Dir weisen. Er ist so strahlend gesund + vergnügt + hat so süße schwarze Äugelchen, daß man ihn lieb haben muß. Wenn er seinen Papa sieht, jauchzt er ihm entgegen. Er bekommt jetzt zwei Zähnchen, und ist trotzdem so freundlich und ruhig. Ich denke so manchmal, wenn Du ihn doch mal sehen könntest, dann würdest Du gewiß vergessen, was um ihn gefehlt ist + würdest meine zärtliche Liebe für das süße Kerlchen gutheißen. Und so will ich mich denn am Weihnachts-Abend in den freundlichen Gedanken hineinversenken, daß auch Du, Mama, an mich + mein Kind in Liebe + mit Vergebung denkst. Daß ich mein Kind, sobald es größer wird + den Schutz eines rechtschaffenen Namens braucht, anerkennen werde, versteht sich von selbst. Ich bin auch überzeugt, daß sich ein liebendes Herz ihm + seinem Vater öffnen wird, wenn er in die Jahre kommt, wo seine Erziehung zum tüchtigen, fleißigen Menschen beginnen muß. Vorläufig bleibt er + seine Mutter bei mir + unter meinem Schutz.
Ich habe meine Zeilen an Dich persönlich gerichtet, weil ich es ganz Dir überlassen will, zu tun + mitzuteilen, wem + was Du für richtig hältst. Ich weiß nicht, wie Papa + die Geschwister über meine Sache denken + ob es nicht das Richtigste ist, wenn wir beide die Angelegenheit für uns behalten. Aber ich überlasse alles Dir + bitte Dich nur um Eins: wenn Du es kannst, laß das innige Verhältniß, das von jeher zwischen Dir, meine Mama, und mir bestanden hat, dasselbe bleiben. Mein Junge braucht Deine Liebe und ich brauche sie noch viel mehr. Nimm meinen herzlichen Weihnachtskuß an, Mama + auch von meinem Kindchen. Dein treuer Carl.“

Nun, die Mutter behielt „die Angelegenheit“ nur einen Monat für sich, dann ließ sie Carls Brief ihrem Mann zukommen und legte einen Zettel dazu:
„Mein liebes Vaterchen! Du mußt Carls Brief lesen und ihm mit Deinem väterlichen Rath zur Seite stehen. Er schrieb mir 2 Tage vor Weihnachten, ich hatte aber keinen Muth, Deine müde Seele noch mehr zu belasten. Jetzt bist Du ja wieder frei und kannst unserem Carl schreiben, was Du über die Sache denkst. Ich hatte nur Thränen über seine Auffassung, aber unsere Liebe verliert er nicht. So mein Vaterchen, nun lies einmal.“

Wenn Carl gehofft hatte, sein Vater werde freundlich reagieren, dann hatte er sich geirrt. „Finde die Frau ab!“, schrieb er und verbot Carl, nach Hamburg zurück zu kommen, es sei denn, er trennte sich von Akimoto Jama und seinem japanischen Sohn und heiratete eine Hamburgerin, z.B. seine Cousine Gertrud. Das tat mein späterer Großvater Carl tatsächlich im Jahre 1914, und das Paar lebte eine Zeitlang in Yokohama und ab 1916 in San Francisco, zusammen mit Karl Yoshiyasu, den Carl als ehelich anerkannt hatte. Was aus Akimoto Jama wurde, wusste angeblich Niemand in unserer Familie. Als Gertrud 1920 ein Kind erwartete, bestand sie darauf, dass es in Deutschland zur Welt kommen sollte. Meine Großeltern kehrten nach Hamburg zurück und wurden nun von der Familie herzlich aufgenommen und bei ihrem Neubeginn unterstützt. So kam meine Mutter Irmgard in der Hansestadt zur Welt, aber der 15-jährige Karl Yoshiyasu blieb in San Francisco. Meine Großeltern hatten ihn dort in ein Internat gegeben und dafür eine entsprechende Summe hinterlegt. Sie haben ihn nie wiedergesehen, auch wenn mein Großvater im Briefkontakt mit ihm blieb.
Text und private Fotos: Boike Jacobs