Beitrag: Boike Jacobs
„Guten Rutsch ins neue Jahr!“, ruft mir mein Nachbar um 24 Uhr fröhlich zu und hebt das Sektglas. Wir alle rundum, Frauen und Männer, tun es ihm nach: „Guten Rutsch!“ Und da läuten schon die Kirchenglocken, Böller und Raketen schießen in die Luft. Tags zuvor hat es sogar geschneit. „Guten Rutsch“ also. Aber was ist das eigentlich für ein seltsamer Glückwunsch – sollen wir ausrutschen? Bei überfrierender Nässe von einem Jahr ins nächste schliddern? Oder hat der Satz eine ganz andere Bedeutung?

Tatsächlich kommt er aus dem Jiddischen, das im vergangenen Jahrhundert auf dem Lande von allen Juden gesprochen und von christlichen Nachbarn gekannt und – wenn auch in verballhornter Form – ins Alltagsdeutsch übernommen wurde. Etwas 120 Wörter und Redensarten sollen es sein. Dazu gehört auch der „gute Rutsch“. Der Beginn, besonders der Jahresbeginn, heißt im Jiddischen „rosch“, und Juden wünschen sich bis heute „gud rosch“ – der Ursprung von „Guten Rutsch“.
Ähnlich ist es mit „Hals- und Beinbruch“, das wir einander sagen, wenn wir irgendetwas Gewagtes unternehmen. Makaber, oder? Aber auch diese Redewendung kommt aus dem Jiddischen. Mit dem Hals ist das Genick gemeint, Knochen heißen Gebeine, und nicht ein „Bruch“ wird erhofft, sondern ein „barúch“, was ganz ähnlich klingt und jiddisch „Segen“ heißt. Das macht dann plötzlich Sinn.

Wenn aber Zoff ist im Kaff, weil ein Mann erst geschachert, dann seine Nachbarn abgezockt und sich als echter Ganove entpuppt hat, während sein Kumpel Schmiere stand? Nun, auch diese Wörter stammen aus dem Jiddischen: „Zoff“ kommt von „ssoff“ und heißt erst einmal nur „Ende“, aber meist geht es um „a miser ssoff“ – ein „schlechtes Ende“ also. Ein Kaff ist ein Dorf, jiddisch „kafar“, und „schachern“ kommt von „sachern“. Eigentlich heißt es nur „Handel treiben“, doch mittlerweile hat es eine durchaus negative Bedeutung. Ähnlich ist es mit dem Zocken, jiddisch „zschocken“ – „spielen“. Längst bezieht sich das auf Glücksspiele, und wer „abgezockt“ wird, der verliert eben. Ein Ganove ist ein „gannev“, zu Deutsch ein Dieb, und „Schmiere stehen“ kommt von „schmira“ – „Wache“. Alles klar, Sinn verstanden.
Dass mit Chuzpe Dreistigkeit oder Pfiffigkeit gemeint ist, ein Meschuggener ein bisschen verrückt ist und „koscher“ eigentlich „kascher“ und damit „in Ordnung“ heißt, das ist schon bekannter. Ebenso, dass die „Mischpoke“, die „mischpacha“, die liebe, manchmal sehr anstrengende Familie meint. Da kommt es oft zum Schlamassel – auf Jiddisch „schlo massel“, korrekt übersetzt „kein Glück“. Und wenn am Ende noch jemand „angeschickert“ ist? Nun, das jiddische Wort dafür heißt „schickór“ – betrunken. Wieder was dazu gelernt.

Aber wer käme schon darauf, einen jiddischen Ursprung zu suchen, wenn man feststellt, ein Bekannter habe eine Macke oder sogar eine Meise? Die „makka“ ist ein Fehler oder eine Plage. Aber die Meise? Im Jiddischen bedeutet „maisse“ ursprünglich nur eine Erzählung, eine Geschichte, aber mehr und mehr wurde daraus „Gerede, Gequatsche, Getue“. Was sollten die christlichen Nachbarn aber mit „maisse“ anfangen, wenn sie doch die Meise kannten? Sie waren es dann auch, die zur Veranschaulichung mit dem Zeigefinger an die Schläfe tippten: „Du hast einen Vogel!“

Nichts als Zores, wohin man auch blickt. Also jiddisch Leid, Mühe, Not, und davon gibt es ja zur Zeit mehr als genug. Aber es gibt auch das Gegenteil: „Da hast Du ja wirklich Massel – Glück – gehabt!“ Stimmt, trotz aller Probleme können wir uns das eigentlich jeden Tag sagen – ob nun auf Jiddisch oder auf Hochdeutsch.
Text: Boike Jacobs, Fotos pixabay
Sehr interessant! Vieles davon habe ich nicht gewusst.
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Sehr unterhaltsamer Artikel mit hübschen Fotos! Wieder was dazu gelernt! 😀
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Ein sehr unterhaltsamer Artikel mit einer Fülle von jiddischen Wörtern. Es ist wirklich erstaunlich, wie viele Einzug in unsere Alltagssprache genommen haben. Man kann Jiddisch übrigens auch an der VHS Hamburg-Mitte lernen. Es gibt immer wieder Anfängerkurse, sowohl online wie auch in Präsenz.
Die Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch e.V., in der ich Mitglied bin, bemüht sich seit über 25 Jahren um den Erhalt der jiddischen Sprache und Kultur (https://birnbaum-gesellschaft.de)
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