Damals war's

Rosen, Tulpen, Nelken …

„Wenn Du einst in spätern Jahren
dieses Büchlein wirst durchlesen,
denke dran, wie froh wir waren,
als wir Kinder sind gewesen
und mit frohem, heitren Sinn
wanderten zur Schule hin.“

Als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich zum Geburtstag endlich das langersehnte Poesie-Album. Wie oft hatte ich selbst schon Sprüche in solche Alben geschrieben, nun standen auch in meinem Büchlein Lebensweisheiten, oft verziert mit Glanzbildern, gemalten flammenden Herzen oder mehr oder weniger gelungenen Zeichnungen. „Rosen, Tulpen, Nelken …“ Ach ja.

Für mich war mein in blaues Kunstleder gebundenes Poesiealbum etwas ganz Neues, etwas, das nur Mädchen in der Klasse herumreichten. Nie hätte ich damals gedacht, dass es Poesie-Alben schon im 16. Jahrhundert gab, die von Studenten als eine Art Autogrammbuch geführt wurden, in dem sie Unterschriften berühmter Lehrer sammelten. In einem der ältesten erhaltenen finden sich sogar die Namen von Martin Luther und Philipp Melanchton. Also nicht „reine Frauensache“, wie oft abfällig gesagt wird, den Anfang machten die Herren der Schöpfung.

Aber zurück zu meinem blauen Büchlein. Natürlich enthielt es auch die Klassiker, die wir wohl alle kennen: „Liebe das Mutterherz, so lange es schlägt / wenn es gebrochen ist, ist es zu spät.“ „In allen vier Ecken / soll Liebe drin stecken.“ „Hab Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit / ob der Himmel voll Wolken / und die Erde voll Streit.“ Oder kürzer: „Mach es wie die Sonnenuhr / zähl die heitern Stunden nur.“ Und natürlich fehlte auch nicht der Spruch, den ich überhaupt nicht mochte: „Sei wie das Veilchen im Moose / bescheiden, sittsam und rein / und nicht wie die stolze Rose / die immer bewundert will sein.“ Meine Güte, wer träumt schon von einer Zukunft als sittsames Veilchen!

Lehrer trugen natürlich auch etwas Pädagogisches ein, aber nur der Spruch meines Geschichtslehrers ist mir in Erinnerung geblieben: „Sei lieb und fromm, sei treu und edel / mit einem Wort: ein deutsches Mädel.“ Damals war mir nicht ganz klar, was es mit dem deutschen Mädel auf sich hatte, schließlich wurde über die NS-Zeit nicht gesprochen, weder zu Hause noch in der Schule. Später konnte ich nur mit dem Kopf darüber schütteln, wie unverhohlen Ende der 50-er Jahre gelegentlich noch das nationalsozialistische Frauenideal hochgehalten wurde. 

Weit mehr Vergnügen macht mir da das Poesie-Album meiner Urgroßmutter Emilie Niemeyer, in dem sich ihre Eltern und Geschwister verewigten. Als Letzte gab „Deine Dich liebende Schwester Bertha“ hier einen Rat fürs Leben: „Allen teile Deine Freuden / Vielen Munterkeit und Scherz / Wenig Edlen Deine Leiden / Auserwählten nur Dein Herz.“ Und Bertha fügte hinzu: „Dies kleine einfache aber wahre Sprüchlein beherzige nur wohl und Du wirst die Wahrheit erkennen.“ Ob sie damit wohl recht hatte?

Boike Jacobs, Fotos: pixabay

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s